Station 8: Jüdischer Friedhof
Estherweg – Zur Karte – Zum Tourstart
Wir sind jetzt bei der letzten Station unserer Führung angekommen, beim jüdischen Friedhof am Estherweg. Nach der Zerstörung der Synagoge im Jahre 1938 ist der Friedhof das letzte sichtbare Zeugnis der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Solingen.
Geschichte des jüdischen Friedhofs
Mit der Ansiedlung der ersten Juden in Solingen um 1700 entstand die erste kleine jüdische Gemeinschaft, die einen Betraum und einen Begräbnisplatz benötigte. Urkundlich wird der Friedhof „auf dem Clauberg“ im Jahr 1718 zum ersten Mal erwähnt.
Wie alle jüdischen Begräbnisstätten wurde auch dieser Friedhof für die Ewigkeit angelegt, da nach jüdischem Glauben die Verstorbenen mit Leib und Seele auferstehen, wenn der Auserwählte des jüdischen Volkes erscheint. Wie wichtig der Friedhof den jüdischen Menschen ist, spiegelt sich auch in Ausdrücken wie „Haus des Lebens“ und „Guter Ort“.
Die ältesten Grabsteine sind nicht erhalten. Heute gibt es noch 180 Grabstätten auf dem Friedhof. Das älteste Grabmal aus dem Jahr 1820 gehört einer Angeheirateten der Familie Coppel: Sophie Herz (1744-1820) war die zweite Frau des neben ihr begrabenen Gatten Samuel Coppel senior (1745-1837). Er war Metzger, handelte aber auch mit Kurzwaren. Viele Jahre leitete er die Solinger jüdische Gemeinde. Insgesamt 15 Grabstätten der Familie Coppel sind erhalten geblieben, wobei die Ruhestätte der Familie des Ehrenbürgers Gustav Coppel heraussticht.
Im April 1941 wurde Lina Mandel geb. Silberberg als letzte Solingerin auf dem Friedhof Estherweg beerdigt. Seitdem ist der Friedhof geschlossen. Solinger Juden und Jüdinnen werden heute in Wuppertal beigesetzt.
Der Friedhof gliedert sich in die Felder A, B und C. Das Feld A liegt vom Eingang aus gesehen auf der linken Seite. Man findet dort Grabsteine aus dem Zeitraum 1820-1910. Sieben Grabstätten lassen sich der Familie Coppel zuordnen; neben Sophie Herz und Samuel Coppel sind das die Kinder aus der ersten Ehe des Samuel Coppel senior mit Jette Aron. Der Grabstein der Letzteren existiert nicht mehr. Die in Solingen begrabenen Kinder sind: Samuel Coppel junior, Salomon Coppel und Blümchen Coppel.
Der jüngste Bruder Alexander Coppel (1795-1878) liegt im Gräberfeld B, das 1876-1922 belegt wurde. Im Jahr 1821 am Tag seiner Hochzeit mit Elise Schubach (1803-1880) wurde die Firma Alexander Coppel gegründet. Das Paar bekam acht Kinder, von denen fünf auf dem Friedhof begraben sind: Von Samuel Coppel (1822-1824) ist der Grabstein nicht mehr erhalten. Fanny Coppel (1824-1885) und ihr Ehemann Abraham Geisenheimer sind nebeneinander bestattet. Der Bruder Arnold Coppel liegt direkt daneben. Die Schwester Julie verstarb mit 83 Jahren.
Der Ehrenbürger Gustav Coppel ist im neuesten Gräberfeld C begraben, das ab 1908 bis zur Schließung des Friedhofes genutzt wurde. In dieser Familiengruft ist neben seiner Frau Fanny Katzenstein (1836-1922) auch der gemeinsame Sohn Hermann (1859-1931) beigesetzt.
Bronzefarbene Mahntafeln, angebracht von der AG Jüdischer Friedhof, erinnern an die Opfer des Holocaust aus der Familie: die beiden Schwestern Anna Reiche und Martha Coppel, die 1942 in Ravensbrück beziehungsweise Sobibor getötet wurden. Der Name von Dr. Alexander Coppel, der in Theresienstadt starb, wurde nach dem Krieg bei den Inschriften auf der Familiengruft ergänzt.
Die Zerstörung der Friedhofskapelle
Hier stand bis 1938 auch die 1913/14 errichtete Friedhofskapelle, zu deren Bau auch die Familie Coppel finanziell wesentlich beigetragen hatte. Am 10. November 1938 wurde gegen ein Uhr morgens die Friedhofskapelle aufgebrochen. Stühle, Bänke und Teppiche im Inneren der Kapelle wurden zusammengetragen und angezündet. Gegen 18 Uhr kamen zahlreiche SA-Männer mit Hacken und Stricken aus einer Gaststätte und gingen erneut zum jüdischen Friedhof. Es wurden Gräber geschändet, zahlreiche Denkmäler wurden umgestürzt und demoliert. Anschließend versuchte ein SA-Pioniersturm zweimal vergeblich, das Dach der Friedhofskapelle zu sprengen. Dann wurde das Dach angezündet.
Die Ruine wurde abgesperrt und deren Niederlegung im Dezember 1938 von der Stadt verfügt. Im August 1939 beantragte die Synagogen-Gemeinde, die noch stehende Eingangsvorhalle als kleine Leichenhalle umzubauen, doch die Stadt beschied, dass „der Wiederaufbau der zum Teil niedergelegten Friedhofskapelle nicht erforderlich ist“. Die Gemeinde wurde „ersucht, die übrigen Mauerreste innerhalb von 14 Tagen ordnungsgemäß niederzulegen und die Schuttmassen beseitigen zu lassen.“
1948 wurden drei ehemalige Angehörige des SA-Pioniersturms, die an der Schändung des Friedhofs und der Zerstörung der Friedhofskapelle beteiligt waren, freigesprochen. Ein Angeklagter wurde wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte die Sprengung der Kapelle durchgeführt. Ein weiterer wurde zu einem Jahr Haft verurteilt. Er hatte das Dach der Kapelle mit Benzin angezündet.
Die AG „Jüdischer Friedhof“
Im Herbst 1987 fragte der Solinger Oberbürgermeister Gerd Kaimer die damalige Gesamtschule Solingen an, ob sie eine Patenschaft über den jüdischen Friedhof am Estherweg übernehmen wolle. Nach einigen Vorbereitungen traf sich die neue AG am 11. Februar 1988 zum ersten Mal mit dem Leiter Wilhelm Bramann. Nach seiner Pensionierung übernahm 1990 Michael Sandmöller die Leitung der AG, 2017 folgte Simone Sassin.
Bis heute gibt es vier Arbeitsbereiche: die Friedhofspflege, die Korrespondenz mit Nachkommen, um mehr über die Familiengeschichten zu erfahren und in Kontakt zu bleiben, die Vermittlung von Wissen über das jüdische Leben, Antisemitismus früher und heute sowie Exkursionen und die Teilnahme an Veranstaltungen, wie zum Beispiel am Gedenken an die Reichspogromnacht, am Kippa-Tag, an der Stolpersteinpflege und Gedenkstättenbesuche.
Im Juli 2021 besuchten Nachfahren von Johanna Seligmann-Coppel die Geburtsstadt der Urgroßmutter, um einen Dokumentarfilm über die Vorfahrin zu drehen, die während der NS-Zeit aus dem Schweizer Exil heraus versucht hatte, Verwandte aus Deutschland zu retten. Die Filmaufnahmen wurden von Daniela Tobias und Armin Schulte vom Stadtarchiv Solingen betreut. AG-Leiterin Simone Sassin ermöglichte trotz Sommerferien den Dreh auf dem Friedhof und in der Alexander-Coppel-Gesamtschule. Der intensive Austausch und die Recherchen während des Besuchs stehen am Anfang einer neuen Verbindung!
Seit Dezember 1994 existiert aus der AG-Arbeit heraus ein Schüleraustausch mit Israel, der seither regelmäßig durchgeführt wird. Der 13. Austausch im Januar 2020 mit einem Besuch in Israel blieb leider unvollständig: Der Corona-Lockdown im März 2020 verhinderte den Gegenbesuch der israelischen Schüler*innengruppe in Deutschland. Doch auch diese wichtige Arbeit soll erfolgreich fortgesetzt werden.