Jüdische Ärzte und Ärztinnen

Station 7: Dr. Erna Rüppel

Kartenausschnitt Augustastr. 10

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Die Solinger Kinderärztin Dr. Erna Rüppel stammte mütterlicherseits aus der Familie Joseph Feist, die sowohl in der Stahlwarenindustrie als auch in der Synagogengemeinde eine Rolle spielte. Geboren 1895 als Erna Marcus in Wuppertal-Barmen, erlebte sie ihre Kindheit und Jugend in Köln. Dort machte sie – damals eine Seltenheit – 1913 das Abitur. Medizin studierte sie hauptsächlich an der Universität zu Bonn.

Im Jahr 1914 gab es mehr als 4.000 Studentinnen, das war 6 % der gesamten Studentenschaft. Von diesen gut 4.000 Studentinnen waren 11,2 % jüdisch. Im Wintersemester 1911/12 studierten 28 % der jüdischen Studentinnen Medizin.

Vermutlich an der Universitätsklinik Bonn lernte Erna Marcus auch ihren Ehemann kennen, den 1890 unehelich geborenen Dr. Hans Rüppel, der Internist wurde. Sie heirateten im Dezember 1921. Die Ehe blieb kinderlos.

Foto Dr. Erna Rüppel am Kinderkrankenbett, wohl Anfang der 1920er Jahre, Quelle: Horst Sassin
Dr. Erna Rüppel am Kinderkrankenbett, wohl Anfang der 1920er Jahre, Quelle: Horst Sassin

Nach einigen Jahren Praxis in Herrenalb, wo Hans Rüppel das Kurhaus leitete, zogen sie 1927 nach Solingen in die Weststraße (Klemens-Horn-Straße) 25a, wo sie zusammen mit dem Neurologen Dr. Paul Berkenau eine Praxisgemeinschaft bildeten. Als sie sich etabliert hatten, trennten sie die Praxen, und Rüppels wechselten 1929 zur Weststraße 32. Einige Jahre später bauten sie an der Augustastraße 10 ein eigenes Haus, wofür Hans Rüppel das Kurhaus 1932 verkaufte. Im Dezember 1933 bezogen sie ihr neues Haus mit zwei Praxen und zwei Wohnungen für das Ehepaar Rüppel und für die Tante Hermine Rüppel, die den Haushalt führte.

Die Chronik der Ausgrenzung war dieselbe wie bei allen Juden – mit dem Unterschied, dass Dr. Hans Rüppel nach rassistischen Kriterien „Arier“ war. Trotzdem wurde auch er boykottiert, verlor die Wohlfahrtspraxis der Stadt, die Leitung der Inneren Abteilung an der Heilanstalt Bethesda und die Krankenkassenzulassung. Einen Tag nach der Reichspogromnacht 1938 wurde auch die gemeinsame Wohnung und Hans Rüppels Praxis verwüstet. Mit beteiligt war der Zahnarzt Dr. Langenohl, NSDAP-Parteigenosse und SA-Sanitätsführer. Zwei Söhne des Bekenntnispfarrers Johannes Lutze besuchten am nächsten Tag die Familien Schott und Rüppel, ein Zeichen der Solidarität.

Foto des Ehepaars Erna und Hans Rüppel in den 1920ern, Quelle: Horst Sassin
Das Ehepaar Erna und Hans Rüppel in den 1920ern, Quelle: Horst Sassin

Das Ehepaar Dr. Rüppel entschloss sich nun, sich zum Schein scheiden zu lassen, damit der Internist wieder normal verdienen und dadurch auch Ernas Mutter und die ältere Schwester Grete, die behindert war, finanziell unterstützen konnte. Solche Verfahren wurden enorm beschleunigt. Bereits Ende Dezember erfolgte das Scheidungsurteil. Wenige Tage später zog Erna Rüppel aus.

Ihre neue Wohn- und Arbeitsstätte wurde das „Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache“ in Köln, wo sie nach der Entziehung ihrer Approbation als Lernschwester begann. Als auch in Köln die Juden in sogenannten Judenhäusern zwangsweise zusammengefasst wurden, gelang es ihr, Mutter und Schwester in der Abteilung für Altersschwache unterzubringen.

Der 1000-Bomber-Angriff auf Köln vom 31. Mai 1942 änderte alles. Um „arischen“ Patienten Platz zu machen, musste das unbeschädigt gebliebene Israelitische Asyl geräumt werden. Die Kranken und Alten kamen in das Lager Müngersdorf, von wo ab Juni die Transporte nach Theresienstadt begannen. Einem solchen Transport wurde Erna Rüppel zugeteilt. Mit viel Glück konnte sie von einem Lastwagen springen und eine Kontaktadresse in Solingen benachrichtigen. Von nun an lebte sie in der Illegalität, zunächst in Solingen, dann in Düsseldorf. Mithilfe kroatischer Freunde gelang es Hans Rüppel, gefälschte Ausweispapiere für Erna zu organisieren, mit denen sie unter falscher Identität eine weniger gefährdete Existenz führen konnte.

Im Juni 1943 trat Erna Rüppel unter dem Namen Anna Markus(ch) eine Stelle beim Rotkreuzkrankenhaus in München an. Die fast zwei Jahre bis zur Befreiung Münchens durch die US-Armee müssen enorm belastend gewesen sein. Nie durfte sie sich eine Blöße geben, nie ihre Identität oder ihr ärztliches Fachwissen preisgeben. In den letzten Monaten litt sie an einer schmerzhaften Speicheldrüsenentzündung mit eingeklemmtem Stein. Sie ließ sie nicht operieren, um nicht im halbbewussten Zustand beim Aufwachen ihren wahren Namen zu nennen. Das Eintreffen der Amerikaner erlebte sie als Befreiung.

Kaum nach Solingen zurückgekehrt, fuhr sie mit einem Bus an die tschechoslowakische Grenze, in der Hoffnung, ihre Mutter und ihre Schwester aus dem KZ Theresienstadt abholen zu können. Doch die tschechische Regierung hatte die Grenzen geschlossen. Unverrichteter Dinge kehrte sie nach Solingen zurück. 1952 ließ sie Mutter und Schwester für tot erklären.

In Solingen begann sie ihr früheres Leben wiederaufzunehmen, eröffnete ihre Praxis neu, beantragte Wiedergutmachung, heiratete ihren Mann ein zweites Mal. Das Ehepaar Rüppel erlebte die Verurteilung des SA-Trupps, der bei ihnen gewütet hatte, einschließlich des an der Verwüstung beteiligten Zahnarztes Langenohl. Sie engagierten sich in verschiedenen Ausschüssen für die wieder Fuß fassende Demokratie.

1952 zog Hans Rüppel zu einer anderen Frau nach Düsseldorf, wahrte aber Solidarität mit Erna Rüppel, indem er sich nicht scheiden ließ und ihr die gewünschten Vermögenswerte übertrug. Erna Rüppel wurde nach ihrem Tod 1970 unter überwältigender Teilnahme der Bevölkerung auf dem evangelischen Friedhof Kasinostraße beerdigt.

2018 wurde im Beisein von Verwandten aus der Familie Feist ein Stolperstein an der Augustastr. 10 verlegt.