Jüdische Ärzte und Ärztinnen

Von Dr. Horst Sassin

Die Stationen 1–7 können auch zu Fuß bewältigt werden. Inklusive Station 8 empfiehlt es sich, entweder das Fahrrad oder den Bus zu benutzen (Linie 692 oder 693 von Rathaus nach Klinikum).


Station 1: Dr. Walter und Dr. Ida Marcus

Kartenausschnitt Werwolf 20

Werwolf 20 – Zur Karte

Der Kinderarzt Dr. Walter Marcus, geboren 1894 in Essen, und die gleichaltrige Kinderärztin Dr. Ida Marcus geb. Winternitz, zogen 1923 aus Düsseldorf nach Solingen, wo bereits Walter Marcus‘ ältere Schwestern Toni Michelson und Lina Westheimer lebten. Ida Marcus war in Oxford geboren und in Prag aufgewachsen. Sie war Mitglied der „Liga für Menschenrechte“, der auch Albert Einstein angehörte. Ihr Vater, der Indologe und Sanskritforscher Prof. Moriz Winternitz, hatte sich während dessen Aufenthalt in Prag 1911/12 mit dem Physiker angefreundet, der des öfteren an den Wochenenden zu Besuch kam.

Seit 1924 wohnte und praktizierte das Ehepaar Marcus im eigenen Haus Auf dem Kamp 53 (heute Werwolf 20). Die beiden Kinder Eva und Hans-Werner wurden 1925 und 1929 in Solingen geboren. Die Beliebtheit von Walter Marcus lässt sich daran ermessen, dass auch Eltern aus Gräfrath mit ihren Kindern seine Praxis besuchten, obwohl sie nach 1933 von den Nationalsozialisten boykottiert wurde.

Dafür gibt es ein bezeichnendes Beispiel. In dem antisemitischen Schmierblatt „Der Stürmer“, erschien im Februar 1936 eine primitive Denunziation des Pfarrers der Evangelischen Kirchengemeinde Gräfrath. Julius Roeßle wurde zwar namentlich nicht genannt, war aber eindeutig zu identifizieren. Der Wortlaut:

„Ein geistlicher Meckerer in Solingen. In Solingen-Gräfrath wohnt der evangelische Pfarrer Lic[ensiat] R. (Bekenntnispfarrer). Dieser Herr Pfarrer ist Mitglied der NSDAP, will aber vom Nationalsozialismus nicht viel wissen, denn er ist dauernd am Meckern. Dieser Herr Pfarrer läßt seine Kinder von einem Judenarzt (Marcus) behandeln. Wenn dieser Herr Pfarrer Nationalsozialist sein will, dann ist es die höchste Zeit, daß er die Judenfrage studiert und das Meckern aufhört.“

„Der Stürmer“, Februar 1936
Foto von Ida und Walter Marcus. Quelle: Karen I. Marcus
Ida und Walter Marcus. Quelle: Karen I. Marcus

Tatsächlich war Roeßle NSDAP-Mitglied. Er wurde 1933 als Mitglied der NSDAP-nahen „Deutschen Christen“ zum Pfarrer gewählt. Doch theologisch ging er auf Distanz zu den Nationalsozialisten. Menschlich schätzte er auch jüdische Mitbürger. Auch Friedel, der Sohn des Gräfrather Architekten Fritz Gräbe, der im Zweiten Weltkrieg Juden in der Ukraine rettete, war Patient von Dr. Walter Marcus.

In Deutschland gab es laut der Volkszählung vom Juni 1933 5.557 jüdische Ärzte, nicht gerechnet die aus der jüdischen Gemeinde ausgetretenen oder zum Christentum konvertierten. Das waren 11 % aller deutschen Ärzte.

1936 wurde Dr. Walter Marcus die Kassenarztzulassung entzogen. 1937 erlaubte man ihm noch die Teilnahme an der Internationalen medizinischen Woche in Interlaken. 1938 verlor er schließlich seine Approbation. Da hatten er und seine Frau schon die Auswanderung vorangetrieben. In der Pogromnacht 1938 blieb ihr Haus verschont, weil sie bereits einen „arischen“ Käufer hatten, der sein künftiges Eigentum schützte. Dennoch wurde der Kinderarzt im Zuge der Pogromnacht verhaftet, nach Dachau deportiert und Mitte Dezember 1938 unter der Auflage freigelassen, Deutschland innerhalb von 14 Tagen zu verlassen. Da sie wegen der Kürze der Zeit kein Einreisevisum bekommen konnten, beantragten er und seine Frau Ida, die aufgrund ihrer Geburt in Oxford auch die britische Staatsangehörigkeit besaß, ein Besuchsvisum für Britisch-Palästina, um von dort über England in die USA zu gelangen.

In den USA konnte Walter Marcus, bis er 1943 eine Zusatzprüfung abgelegt hatte, keiner beruflichen Tätigkeit nachkommen und lebte so lange weitgehend von Einnahmen seiner Frau, die als Laborantin zunächst eine unterqualifizierte Arbeit fand. Mitte der 1940er Jahre bekamen beide die Möglichkeit am Thorek Hospital in Chicago zu arbeiten und gründeten später ein eigenes Labor, während Walter Marcus auch eine eigene Praxis eröffnete.

Ida Marcus starb am 2. Dezember 1958 in Chicago an einer Lungenentzündung, die vermutlich die Folge einer Hirnentzündung war, die sie sich bei der Arbeit im Labor zugezogen hatte. Ihre Beisetzung fand unter großer Anteilnahme statt. Auch der Bürgermeister von Chicago, Richard J. Daley, trug sich ins Kondolenzbuch ein. Ihr Mann Walter heiratete nach ihrem Tod ein zweites Mal und starb am 28. Juli 1973, ebenfalls in Chicago.

Als die Tochter Eva 1968 eine Anfrage aus Solingen von Herbert Weber bekam, der an einer Dokumentation der Pogromnacht in Solingen arbeitete, schrieb sie ihm zurück, dass sie sich nicht an diese unglückliche Zeit erinnern wolle, die sie erfolgreich verdrängt habe.

„Es ist sehr schlimm, wenn Menschen die man kannte und traute sich in eine wilde, unbeherrschte, irrsinnige Horde wandeln, der man nichts sagen kann, und die mit Wut alles zerstört und verbrennt. Viele andere Menschen haben auch selbst die Aufregung und Verzweiflung erfahren einen Vater oder Gatten im Konzentrationslager zu haben. Aber wie kann man der heutigen freien Jugend solche Tatsachen und Gefühle schildern? Es ist doch nur mehr alte Geschichte. Es tut mit wirklich leid dass ich Ihnen nicht mehr Unterstützung geben kann, aber meine Erlebnisse bleiben am Besten vergessen.“

Eva Cohn, geb. Marcus im September 1968