Da die Ausstellung „… und laut zu sagen: Nein.“ pandemiebedingt nicht wie geplant im Mai 2020 eröffnet werden konnte, wurden bis Mai 2021 jede Woche Teile daraus unter dem Hashtag #closedbutopen vorgestellt.
Am 9. November 1938, nach den Feierlichkeiten zur Erinnerung an den gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, die stadtweit unter Beteiligung aller Parteigruppierungen stattfanden, trafen sich die städtische Verwaltungsspitze, die Führungskorps der Partei und der SA in der Gaststätte „Bayerischer Hof“ am Mühlenplatz. Gegen 23 Uhr rief Kreisleiter Peter Berns aus Mettmann an und meldete den Tod des Legationsrats Ernst vom Rath in Paris. Dieser war in der deutschen Botschaft von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynspan wenige Tage zuvor angeschossen worden. Er hatte die Tat aus Verzweiflung über die Abschiebung seiner Eltern aus Deutschland nach Polen begangen.
Berns teilte nach einer entsprechenden Ansage von Goebbels aus München mit, „dass auf höherer Weisung wegen des Todes des Gesandtschaftsrates […] in dieser Nacht die Synagogen in Flammen aufgehen und jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert werden sollten, doch solle kein Personenschaden entstehen.“ Der frisch ernannte SA-Oberführer Heinrich Krahne gab dies laut Zeugenaussagen an die versammelten „Amtsleiter der NSDAP, die Führer der NS-Formationen und […] Behördenleiter weiter.“ Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Einige der hochrangigen Parteikader machten sich mit Bezirksinnungsmeisters Wilhelm Tönges auf den Weg zu dessen Tischlerei, um Sägespäne zum Anzünden der Synagoge zu besorgen.
Die 1872 an der Malteserstraße eingeweihte Synagoge war gegen Mitternacht das erste Ziel eines SA-Trupps von 20-30 Mann unter Führung des Obersturmbannführers Alex Katerndahl. Das Gotteshaus wurde geplündert und in Brand gesteckt. Die Feuerwehr schützte lediglich die benachbarten Häuser vor einem Übergreifen der Flammen. Auch die Polizei schritt nicht ein. Ein Polizeiobermeister, der gegenüber der Synagoge wohnte, fotografierte das Geschehen. Sein Film wurde am nächsten Tag beschlagnahmt.
Auf dem jüdischen Friedhof wurde in der Nacht die Friedhofskapelle ausgeräumt, die Einrichtung aufgehäuft und in Brand gesteckt. Gräber wurden geschändet. Am nächsten Tag brachte der SA-Pioniersturm das Dach der Kapelle zum Einsturz, nachdem eine Sprengung misslungen war.
„Die Judenkirche haben sie gestern Nacht ausgebrannt und bis heute Abend soll nichts mehr davon zu sehen sein. Was ist das doch für eine schwere Zeit. Das Schlimmste ist, dass das alles geschehen darf und alles ist still.“
Aus einem Brief der Anwohnerin Bertha Ginsberg nach der Pogromnacht
Die SA wurde nach Mitternacht in Alarmbereitschaft zum Stadthaus beordert, wo Krahne nach Aussage mehrerer Zeugen eine Liste mit Adressen jüdischer Geschäfte und Wohnungen verlas und einzelne Gruppen anwies hier und dort „die Möbel gerade zu setzen“. Die in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte wurden in der Innenstadt, in Wald und Ohligs verwüstet, Schaufensterscheiben eingeschlagen. Arzt- und Anwaltspraxen wurden ebenso wie Privatwohnungen heimgesucht. Der Pogrom machte dabei auch vor konvertierten Juden und vor „Mischehen“ keinen Halt.
Der kommunistische Feuilletonist Max Leven wurde von vier NS-Funktionären überfallen und schließlich in seinem Schlafzimmer erschossen. Sein Mörder Armin Ritter, Hausmeister der benachbarten AOK, wurde zwar gerügt, aber nicht weiter juristisch belangt.
Nach damaligen Presseberichten wurden 32 Solinger Juden am 10. November in „Schutzhaft“ genommen. 20 Männer sind namentlich bekannt. Sie wurden ins Polizeigefängnis im Keller des Stadthauses an der Potsdamer Straße gesperrt. Elf von ihnen wurden am 17. November in das KZ Dachau bei München deportiert:
- Heinz Dessauer, am 10. Januar 1939 entlassen
- Martin Goldschmidt, am 28. November 1938 entlassen
- Gustav Joseph, brachte sich vermutlich in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 1939 um
- Dr. Hugo Lichtenstein, am 2. Dezember 1938 entlassen
- Dr. Walter Marcus, Mitte Dezember 1938 entlassen
- Kurt Schubach, am 18. Januar 1939 entlassen
- Hugo Sommer, am 5. Dezember 1938 entlassen
- Sally Tabak, am 8. Dezember 1938 entlassen
- Albert Tobias, am 23. Februar 1939 entlassen
- Karl Vasen
- Karl Wallach, am 18. Dezember 1938 entlassen
Aber nicht nur männliche Juden wurden im Polizeigefängnis festgehalten. Bella, die 7-jährige Tochter des Ehepaars Tabak verbrachte die Nacht mit ihrem Vater Sally im Keller des Stadthauses, da ihre Mutter nicht in Solingen war und sie sich weigerte bei ihrem Kindermädchen Betty Reis zu bleiben. Auch Betty Reis wurde angeblich im Rahmen der Pogrome verschleppt und misshandelt, ein genauer Zeitraum konnte bislang nicht ermittelt werden.
Die Rheinische Landeszeitung berichtete am 11. November von vermeintlich „spontanen judenfeindlichen Kundgebungen” und schob die Schuld von den NS-Gruppierungen auf die Solinger Bevölkerung.
Der Hauptzorn der Solinger richtete sich jedoch gegen die Synagoge. In all den Jahren nach der Machtübernahme hatte es immer wieder die deutschen Volksgenossen herausgefordert, daß von dem hohen Dach dieses jüdischen Gebetshauses provozierend der Davidstern, das Symbol des jüdischen Volkes, über Solingen hinwegstarrte. Die Synagoge wurde im Laufe der Nacht von der Volksmenge gestürmt. Die Inneneinrichtung wurde dabei vollkommen zerstört, und später geriet sie in Brand. Das Feuer griff sehr schnell auf den ganzen Bau über. Der Bau brannte vollständig aus. Da die Grundmauern stehen geblieben waren, wurde am gestrigen Tage aus sicherheitspolizeilichen Gründen mit ihrem Abbruch begonnen. Der Davidstern leuchtet nicht mehr über Solingen.
Rheinische Landeszeitung vom 11.11.1938
Einige Täter, wie Max Levens Mörder Armin Ritter oder der NSDAP-Kreispropagandaleiter Arthur Bolthausen, wurden in Nachkriegsprozessen zur Verantwortung gezogen, bekamen aber nur geringe Haftstrafen. Andere, wie der damalige hauptverantwortliche SA-Oberführer Heinrich Krahne, wurden freigesprochen, weil man sich gegenseitig deckte.
Auf der Webseite des Unterstützerkreises Stolpersteine für Solingen finden Sie einen Stadtrundgang zum 9. November, der sie zu den Tatorten der Pogromnacht durch die Solinger Innenstadt führt.
Quellen:
– Stephan Stracke: Der Novemberpogrom 1938 in Solingen, Solingen 2018
– Stadtarchiv Solingen: Rheinische Landeszeitung vom 10.11.1938 und 11.11.1938, Foto Synagoge RS 15816
– The National Archives / fold3.com: Zugangsbücher des Lagers Dachau
– Solinger Geschichtswerkstatt – Manfred Krause (Hg.): „…dass ich die Stätte des Glückes vor meinem Tode verlassen müsste“ – Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Solingen. Solingen 2000, darin: Horst Sassin: „Pogrom vom 9./10. November 1938 in Solingen“
– LAV NRW R, Gerichte Rep. 240/150
Die empirische und konzeptionelle Grundlagenarbeit zur Ausstellung durch Dr. Stephan Stracke wurde mit Mitteln der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert.