Jüdische Kaufleute in Ohligs

Station 7: Familien Steeg und Wertheim

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Die Düsseldorfer Str. 35 heute. Foto: Daniela Tobias

Düsseldorfer Str. 35 – Zur Karte – Zum Tourstart

Paul Steeg kam am 6. Mai 1874 in Bochum als Sohn des Kaufmanns Louis Steeg und seiner Frau Sara zur Welt. Im August 1904 heiratete er die am 20. Juni 1875 in Castrop geborene Emma Steinberg. Das Ehepaar wohnte in Ohligs zunächst an der Düsseldorfer Str. 31 und eröffnete dort sein erstes eigenes Geschäft. 1909 zog der „Central-Bazar Paul Steeg“ zur Düsseldorfer Straße 35 in das markante Eckhaus des Manufakturwarenhändlers Heinrich Pongs.

Geschäft Paul Steeg, Düsseldorfer Str. 35 (rechts), Postkarte von ca. 1910. Quelle: Stadtarchiv Solingen, PK 2446
Geschäft Paul Steeg, Düsseldorfer Str. 35 (rechts), Postkarte von ca. 1910. Quelle: Stadtarchiv Solingen, PK 2446

Die Geschäftsgründung verlief erfolgreich: zwischen 1906 und 1907 vervierfachte sich der Umfang der von Paul Steeg zu entrichtenden Steuern. Auch in den folgenden Jahren gehörte der „Central-Bazar“ immer zu den größten jüdischen Geschäften in Ohligs. Neben Spielwaren bot das Haushaltswarengeschäft Leder-, Nickel- und Kristallwaren, Kunstgegenstände, Klein- und Korbmöbel, Haushaltswaren und Geschenkartikel an.

Annonce zum Schulanfang vom 5. April 1910 im Ohligser Anzeiger. Quelle: Stadtarchiv Solingen via zeitpunkt.nrw
Annonce vom 4. April 1910 im Ohligser Anzeiger. Quelle: Stadtarchiv Solingen via zeitpunkt.nrw

Am 30. Juni 1905 wurde den Eheleuten Tochter Grete geboren. Paul Steeg annoncierte am 27. Juni 1907 im „Israelit“, dem „Zentralorgan für das orthodoxe Judentum“:

„Aelteres, tüchtiges Mädchen, das einen bürgerlichen Haushalt geführt hat und perfect kochen kann, zur Stütze meiner Frau gesucht. Dienstmädchen vorhanden. Offerten m. Bild u. Gehaltsansprüchen erbittet Paul Steeg, Ohligs bei Solingen.“

Anzeige im Israelit vom 27. Juni 1907, Quelle: UB Goethe-Universität Frankfurt

Tochter Grete besuchte von 1915 bis 1922 das Lyzeum in Ohligs und absolvierte im Anschluss eine kaufmännische Lehre im elterlichen Geschäft. Ab 1928 war sie in der Buchhaltung des Familienbetriebs tätig. Nachdem sie sich im Dezember 1926 zunächst mit dem Kaufmann Albert Oster verlobt hatte, heiratete sie 1929 den am 14. August 1899 in Iserlohn geborenen Kaufmann Walter Wertheim. Nach ihrer Heirat leitete Grete zunächst den Ein- und Verkauf der Firma H. Wertheim Nachf. in Iserlohn und Hemer. Im Juni 1931 zog sie zusammen mit ihrem Mann nach Ohligs.

Annonce im Iserlohner Kreisanzeiger vom 30.12.1929, Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek Münster, zeitpunkt.nrw

Im Juni 1931 kündigte Paul Steeg über Annoncen den Ausverkauf seiner Waren an. Das Steegsche Kaufhaus wurde umgebaut. Im August 1931 ließ sein Schwiegersohn Walter Wertheim die „ERWEGE Einheitspreis-GmbH“, deren Geschäftsführer er war, in das Handelsregister eintragen. Die Einkaufsgenossenschaft Rheinisch-Westfälischer Geschäftshäuser war ein Zusammenschluss selbständiger Einzelhändler, der den verbilligten Einkauf von Waren garantieren sollte.

Annonce vom 5.9.1931 im Ohligser Anzeiger. Quelle: Stadtarchiv Solingen via zeitpunkt.nrw

Am 9. September 1931 wurde das neue Kleinpreis-Warenhaus, das in den nächsten Jahren zwischen 45 und 60 Angestellte hatte, eröffnet. An dem Gewinn war Paul Steeg mit 40 % beteiligt. Seit 1931 engagierte sich Paul Steeg als stellvertretender Repräsentant der Synagogengemeinde Solingen, ab 1937 bis zu seinem Tod war er ihr stellvertretender Vorsteher.

Die Wertheims hatten geschäftlich zunächst großen Erfolg. Walter Wertheim galt nach den Erinnerungen ehemaliger Angestellter als strenger, aber guter Chef, der auch für die privaten Probleme seiner Angestellten immer ein offenes Ohr hatte. Grete war für das Personal sowie die Abteilungen Textil-, Leder-, Schreib-, Papier- und Schuhwaren verantwortlich.

Auch nach 1933 lief der Geschäftsbetrieb trotz der einsetzenden Boykottmaßnahmen der Nationalsozialisten weiterhin gut. 1933 wurde die Firma in Walter Wertheim GmbH umbenannt. Im August 1933 zog dann Walters jüngerer Bruder Fritz Wertheim nach Ohligs. Er hatte unter anderem in Marburg und Würzburg Jura studiert und sein Studium 1932 mit einer Promotion abgeschlossen. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten wurde er am 1. April 1933 jedoch aus der Liste der Anwälte gestrichen und verlor damit seine im Aufbau befindliche Anwaltspraxis.

Einrichtungsplan Erdgeschoss zum Umbau-Antrag. Quelle: Stadtarchiv Solingen, Hausakte HA 3684
Einrichtungsplan Erdgeschoss zum Umbau-Antrag. Quelle: Stadtarchiv Solingen, Hausakte HA 3684

Fritz trat daraufhin als Lehrling in die Rheinisch-Westfälische Einkaufsgesellschaft ein, bei der er später als Geschäftsleiter geführt wurde. Privat waren Fritz Wertheim, und vermutlich auch sein Bruder Walter, im „Sportbund ‚Schild‘ des Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ in Düsseldorf aktiv. Der Verein versuchte, auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur die sportliche Betätigung für Juden aufrechtzuerhalten. Fritz Wertheim engagierte sich nicht nur im Vorstand des Düsseldorfer Vereins, sondern war auch auf dem Fußballfeld als Mittelstürmer erfolgreich, wie im Sportteil des Israelitischen Familienblatts am 17. Februar 1938 berichtet wurde.

Walter Wertheim spielte wahrscheinlich bereits im Sommer 1936 mit dem Gedanken auszuwandern, als er seinen Freund Kurt Mark in New York besuchte – obwohl das Wertheimsche Warenhaus trotz der fortschreitenden Diskriminierung und Entrechtung seiner Besitzer bis 1937 Gewinn erwirtschaftete. Noch am 3. November 1938 warb das Kaufhaus mit einer Annonce in der „Central-Verein-Zeitung“, dem Organ des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Nur wenige Tage später wurden dann das Geschäft und die Privatwohnungen der Familien Steeg und Wertheim während der Reichspogromnacht vollständig demoliert. Der ehemalige Lagerverwalter Albert Drees sagte nach dem Kriege aus:

„In der Nacht, als die sogenannte Judenaktion vor sich ging, wurde ich von Dr. Wertheim ins Geschäft zur Düsseldorferstraße geholt. Bei meiner Ankunft waren schon die Schaufenster eingeschlagen. Mit zwei weiteren Angestellten und den Gebrüdern Wertheim begannen wir sofort mit Aufräumungsarbeiten. Nach kurzer Zeit erschienen eine Anzahl S.A. Leute in Uniform und drangen unter Führung des Sturmführers Eschenbrücher nochmals erneut in den Laden ein und schlugen die Inneneinrichtung kaputt. Wir flüchteten in die Privatwohnung der Familie Steeg. Die Familie Wertheim ist dann, da die Sache gefährlich wurde, durch ein Klosettfenster ins Freie gelangt und unter Mitnahme einiger Kleidungsstücke, die sie noch aus ihrer Wohnung aus der Marktstraße holten, in Richtung Düsseldorf geflüchtet. Frau Steeg blieb bei uns. Die Täter drangen dann in die Privatwohnung der Eheleute Steeg ein und zertrümmerten dort Gegenstände. An der Frau Steeg haben sie sich nicht vergriffen. […] Nicht unerwähnt will ich lassen, daß der damalige Revierleiter des hiesigen Polizeireviers, Oberleutnant Dreyer, […] zu mir sagte: Ein Deutscher Mann arbeitet nicht bei Juden.‘“

Aussage von Albert Drees zur Zerstörung des Kaufhauses Wertheim vom 8. November 1946, Quelle: LAV R NRW Gerichte Rep. 191, Nr. 43, Bl. 3, zitiert nach Stracke, Stephan, Der Novemberpogrom 1938 in Solingen im Spiegel der Justiz, Solingen 2018, S.155

Emma Steeg floh zunächst nach Köln, wo zu dieser Zeit ihr Ehemann Paul Patient im Israelitischen Asyl, dem ehemaligen jüdischen Krankenhaus, war. Er starb dort zwei Tage nach der Pogromnacht am 11. November 1938 an den Folgen eines Magengeschwürs. Ob auch seine Tochter und sein Schwiegersohn in Köln noch Abschied vom Vater nehmen konnten, ist unklar. Bereits am 12. November 1938 gingen Grete und Walter Wertheim zusammen mit Walters Bruder Fritz in Rotterdam an Bord der S.S. Veendam, die am 23. November den Hafen von New York erreichte.

Grabstein von Paul Steeg auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd. Quelle: Synagogengemeinde Köln

In Ohligs wurde der Geschäftsbetrieb des Warenhauses eingestellt, die Aufräumarbeiten von einem von der Partei eingesetzten kommissarischen Geschäftsführer geleitet. Die Firma wurde „arisiert“, das heißt auf einen nicht-jüdischen Besitzer übertragen. Auch die Möbel aus den Privathaushalten der Ehepaare Steeg und Wertheim wurden verkauft.

Am 8. Dezember 1939, also bereits nach Kriegsbeginn, konnte dann auch Emma Steeg ihrer Tochter nach New York folgen. Auch sie reiste mit der S.S. Veendam von Rotterdam aus und erreichte New York am 22. Dezember.

Einbürgerungsantrag von Emma Steeg. Quelle: „New York, Southern District, U.S District Court Naturalization Records, 1824-1946“, database with images, FamilySearch (https://www.familysearch.org/ark:/61903/1:1:QP7X-8H8Q : 8 March 2021), Emma Steeg or Steinberg Steeg, 1940.
Anzeige im Aufbau vom 13.12.1946, Quelle: Archiv Aufbau bei der JM Jüdischen Medien AG, Zürich

In New York verrichtete Walter Wertheim bis November 1939 verschiedene Gelegenheitstätigkeiten, bis er ein Kolonialwarengeschäft erwerben konnte. Im Dezember 1946 warb er im New Yorker „Aufbau“ für „Walter’s Appetizing & Grocery“ im Stadtteil Bronx. Ein Verkaufsrenner dieser Jahre war der Heringssalat nach dem Rezept von Emma Steeg. Zu ihren runden Geburtstagen gratulierten Walter und Grete stets pünktlich über Grußanzeigen im „Aufbau“. Am 22. Februar 1959 starb Emma Steeg in New York. Fritz Wertheim, der sich inzwischen Fred nannte, starb am 18. Oktober 1980 in New York.

Der alte Fassadenschriftzug "Paul Steeg" wurde bei Renovierungsarbeiten 1999 sichtbar, von den Eigentümern jedoch verputzt. Foto: Uli Preuss
Der alte Fassadenschriftzug „Paul Steeg“ wurde bei Renovierungsarbeiten 1999 sichtbar, von den Eigentümern jedoch verputzt. Foto: Uli Preuss

In den 1980er Jahren trafen sich in Ohligs regelmäßig ehemalige Angestellte des Warenhauses und hielten telefonischen Kontakt zu Walter und Grete Wertheim. 1989 gratulierte man dem Ehepaar gemeinschaftlich zur diamantenen Hochzeit. Walter Wertheim starb am 1. August 1991 in New York, nur wenige Tage später folgte ihm am 8. August auch seine Frau Grete.