Station 10: Familie Wallach
Düsseldorfer Str. 26 – Zur Karte – Zum Tourstart
Karl Joseph Wallach kam am 1. Dezember 1897 als siebtes Kind des Metzgermeisters und Viehhändlers Andreas Wallach und seiner Frau Eva in Eilendorf bei Aachen zur Welt. Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt. Laut seiner Tochter Margot erlernte er den Beruf des Dekorateurs.
Karl Wallach zog im August 1927 von Gelsenkirchen nach Ohligs. Zusammen mit Albert Oster eröffnete er im September 1927 an der Düsseldorfer Straße 26, am bisherigen Standort des Kaufhauses von Julius Steinberger, das Textilwarengeschäft Oster & Co. Sie beschäftigten dort teilweise bis zu elf Hilfskräfte.
Am 17. Februar 1929 heiratete Karl Wallach in Goch die am 17. November 1900 ebendort geborene Kauffrau Hildegard Koopmann, deren Familie das größte Konfektions- und Textilgeschäft am Ort unterhielt. Am 12. Januar 1931 wurde Tochter Margot Johanna in Ohligs geboren.
Im August 1931 warb die Firma „Oster & Co.“ mit einer neu eröffneten Einheitspreisabteilung, ein Jahr später wurde das Geschäft dann auf Hildegard Wallach übertragen und in „Oster & Co. Nachfahren“ umbenannt. Im November 1932 zog die Familie Wallach von der Düsseldorfer Straße an die Talstraße 38, wo das Textilgeschäft zunächst weiterbetrieben wurde. Aufgrund der 1933 einsetzenden Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte ging die Firma jedoch im Oktober 1934 in Konkurs. Noch im selben Monat meldete Karl Wallach ein Gewerbe als Provisionsvertreter für Textil-Kurzwaren an. Bis 1938 konnte er an der Talstraße ein Stoff-Etagengeschäft führen.
Nach der Erinnerung von Margot Wallach war die Familie zu einigem Wohlstand gelangt. Die Mutter sammelte Antiquitäten. Ein Hausmädchen, eine Wasch- und eine Putzfrau wurden in der geräumigen Wohnung an der Talstraße beschäftigt. Die Eltern waren nicht besonders religiös, aber Margot besuchte mit Eintritt in die Schule auch den Hebräisch-Unterricht in der Solinger Synagogengemeinde. Hier lernte sie ihre lebenslange Freundin Bella Tabak kennen.
Margot verlebte eine glückliche Kindheit. Mit ihrem Vater streifte sie durch die Wälder, besuchte Fußballspiele und besichtigte 1936 die neu gebaute Autobahn. Erste antisemitische Ausgrenzungen erlebte sie auf dem Schulhof durch ihre Mitschüler:innen. Die Lehrer standen ihr zwar positiv gegenüber und signalisierten ihrer Mutter, dass sie eine gute Schülerin sei, aber gute Noten durften sie dem jüdischen Kind nicht geben.
In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurden auch Wallachs Opfer der organisierten Ausschreitungen gegen Juden. 1946 sagte die Zeugin Anni Meyer aus:
„Die Nacht der bekannten Judenaktion im Jahre 1938 ist mir in guter Erinnerung. Ich wohnte zu der Zeit in diesem Haus Talstr. Nr. 38. Auf der ersten Etage wohnte die jüdische Familie WALLACH. (…) Ich habe nun in meiner Wohnung gehört, daß in der Wohnung der Familie WALLACH geschrien wurde, auch konnte ich hören, daß Möbel zertrümmert wurden, was ich auch später in der Wohnung der Familie WALLACH gesehen habe. Nachdem ich durch das Schreien den Eindruck gewonnen hatte, daß sich die jüdische Familie in Not und Bedrängnis befand, öffnete ich mein nach der Straße gelegenes Fenster und rief um Hilfe. Von der Straße wurde mir von einem Polizeibeamten, den ich unter einer Gaslaterne stehen (…) [sah] und den ich an der Stimme als den Beamten DREYER erkannte, geantwortet: ‚Sie wissen wohl nicht was in dieser Nacht los ist, ganz Deutschland kann in dieser Nacht nicht schlafen.‘ Auch wurde ich von DREYER nach meinem Namen gefragt und aufgefordert, das Fenster zu schließen. In Begleitung des DREYER waren noch zwei Polizeibeamte. (…) Weitere Personen habe ich auf der Straße nicht gesehen.“
Aussage von Anni Meyer zu den Ereignissen in Solingen-Ohligs (3. November 1946), Quelle: LAV R NRW Gerichte Rep. 191, Nr. 43, Bl. 8, zitiert nach Stracke, Stephan, Der Novemberporgrom 1938 in Solingen im Spiegel der Justiz. Darstellungen und Dokumente, Solingen 2018, S.154
Als im Anschluss mehr als 25.000 jüdische Männer in Deutschland in Konzentrationslager eingeliefert wurden, zählte auch Karl Wallach zu den in Solingen verhafteten Juden. Er wurde am 10. November von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen und am 16. November in das KZ Dachau überführt. Zu seinen Mithäftlingen gehörten der Ohligser Kaufmann Martin Goldschmidt und der Arzt Dr. Hugo Lichtenstein. Noch während seiner Haft war sein Gewerbe eingestellt worden, seine Tochter hatte nach nur anderthalbjährigem Besuch die Volksschule verlassen.
Im Dezember 1938 kehrte Karl Wallach als gebrochener Mensch zu seiner Familie zurück. Sie suchten nun nach Fluchtwegen ins Ausland. In den USA hatte man jedoch keine Verwandten und damit keine Chance auf eine Einreise. Anfang April 1939 gelangte die Familie mit Hilfe eines Schleppers zu Fuß über die Grenze nach Belgien. Margot musste bei dem nächtlichen Marsch ihre Puppe zurücklassen. Es war ein Geschenk ihrer Großmutter gewesen, das ständig laut „Mama“ rief und sie sonst verraten hätte.
In Brüssel kamen in den nächsten Monaten weitere Verwandte der Wallachs an, so die Schwägerinnen Helene Appel geb. Koopmann mit ihrem Mann Joseph und Anna Hoffmann geb. Koopmann. Letztere organisierte bis Mai 1940 unter dem Decknamen „Anita Müller“ die illegale Auswanderung von Juden nach Belgien. Später floh sie nach Paris, wo sie im September 1941 festgenommen wurde.
Die Wallachs lebten unter ärmlichen Umständen in einer Dachgeschosswohnung an der Rue Masui 158. Hilde Wallach verdiente den kläglichen Lebensunterhalt als Putzfrau, während sich Karl Wallach um Tochter Margot kümmerte. Nach und nach musste das Ehepaar auch die letzten Wertgegenstände verkaufen, um zu überleben. Margot besuchte die Volkschule, wo sie auch wieder auf ihre Solinger Freundin Bella Tabak traf und in kürzester Zeit Französisch lernte.
Nach dem deutschen Überfall auf Belgien im Mai 1940 wurde Karl Wallach zusammen mit anderen männlichen Deutschen interniert und später in Lager in Südfrankreich überstellt. Ab Juli 1942 lieferte die französische Vichy-Regierung Juden aus der unbesetzten Zone Frankreichs an Deutschland aus. Karl Wallach wurde am 26. August 1942 über das Lager Drancy in das KZ Auschwitz verschleppt und dort umgebracht.
Hilde und Margot Wallach waren allein in Brüssel zurückgeblieben. Noch bis Mai 1942 konnte Margot dort eine öffentliche Schule besuchen. Im Juni 1942 wurden auch die Juden in Belgien und Nordfrankreich zum Tragen des Judensterns gezwungen, und die deutschen Besatzer begannen damit, sie angeblich zur Arbeit ins Reichsgebiet zu transportieren. Hilde Wallach richtete daraufhin über einer Garage im Hinterhof ein Versteck ein, in dem sie sich zusammen mit ihrer Tochter, ihrer Schwester Helene und deren 15jähriger Tochter Ellen bis September 1942 verbarg. Margot, die als einzige fließend Französisch sprach und inzwischen eine katholische Schule besuchte, erledigte die Einkäufe.
Die Rue Masui 158 ist das rote Haus rechts. Das Versteck der Familie lag über der Garage.
In der zunehmend gefährlicher werdenden Situation bat Hilde Wallach schließlich die Nonnen aus Margots Schule um Unterstützung. Mit Hilfe eines Priesters wurden die vier Frauen und Mädchen auf verschiedene katholische Einrichtungen verteilt, die belgische Widerstandsbewegung besorgte falsche Papiere. Margot fand unter dem Namen Rosette Nisal Unterschlupf in einem Kloster in Namur und wurde katholisch getauft. Sie erlebte dort im September 1944 die Befreiung durch kanadische Einheiten.
Nachdem Margot zurück bei ihrer Mutter in Brüssel war, ermöglichte die Hilfsorganisation United Jewish Appeal der talentierten Schülerin das Lycée zu besuchen. Margot Wallach schaffte bereits mit 16 Jahren als eine der besten Absolventinnen der Stadt ihren Abschluss. An ein Studium war jedoch aus finanziellen Gründen nicht zu denken, und sie nahm eine Arbeit als Sekretärin an. Im Dezember 1948 reisten Hilde und Margot Wallach von Antwerpen aus in die USA, wohin ein Jahr zuvor bereits Hildes Schwester Helene Appel mit ihrer Tochter Ellen ausgewandert war.
Margot Wallach gründete in New York mit Lothar „Leonard“ Katz, einem Überlebenden des KZ Buchenwald, eine Familie. Im Juni 1976 starb ihre Mutter Hilde in New York. 2001 ließ sich Margot Katz für die USC Shoah Foundation interviewen. Sie starb am 23. August 2004 in Naples, Florida.