#closedbutopen Zwangsarbeit

Da die Ausstellung „… und laut zu sagen: Nein.“ pandemiebedingt nicht wie geplant im Mai 2020 eröffnet werden konnte, wurden bis Mai 2021 jede Woche Teile daraus unter dem Hashtag #closedbutopen vorgestellt.

In Deutschland arbeiteten während des Zweiten Weltkrieges vor allem wegen des sich aufgrund der Einberufungen ständig verschärfenden Arbeitskräftemangels circa 10. Millionen ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Die Heranziehung von Frauen sowie die Stilllegung und Ausdünnung von kriegsunwichtigen Betrieben hatte den Arbeitskräftebedarf nicht zu decken vermocht. Der Höchststand bei der Beschäftigung von Ausländern wurde im Herbst 1944 mit gleichzeitig 7,9 Millionen Menschen erreicht.

Niederländer und Belgier kamen zunächst freiwillig nach Deutschland, auch Polen und Ukrainer wurden zu Beginn noch angeworben. Von echter „Freiwilligkeit“ im Sinne einer unabhängigen Entscheidung kann dabei aufgrund der von Deutschland verursachten kriegsbedingten Verhältnisse natürlich nicht gesprochen werden. Ab 1941 wurde bei der Suche nach neuen Arbeitskräften zunächst in Polen und dann in der Sowjetunion zunehmend brutaler Zwang angewendet. Zuständig für die Rekrutierung der Arbeitskräfte waren die Arbeitsämter und die deutschen Militär- oder Zivilverwaltungen in den besetzten Gebieten. Ab März 1942 koordinierte in Deutschland der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz (GBA), Fritz Sauckel, Anwerbung bzw. Verschleppung und Einsatz der Zwangsarbeiter, der nun vor allem in den besetzten Gebieten der Sowjetunion stattfand.

„Ostarbeiterinnen“ aus der Sowjetunion bei Kortenbach & Rauh, Quelle: Stadtarchiv Solingen, RS 15650

Von einer dieser Deportationen, den sogenannten „Sauckel-Aktionen“, berichtet eine der Solinger Zwangsarbeiterin aus der Ukraine:

Das war so: Es war 1942, im Krieg. Mitten in der Nacht, um 12 Uhr (…) leuchteten Männer mit einer Lampe in die Fenster. Der Vater machte die Türe auf, und da standen SS-Leute: (…) Sie sagten: ‚Morgen um 10 Uhr muß einer von euch am Bahnhof sein, um nach Deutschland zum Arbeiten zu fahren.‘ ‚Ja‘, hat der Vater gesagt, ‚ist in Ordnung, wird gemacht.‘ (…) Ich war 19 und hatte schon eine Lehre als Kindergärtnerin gemacht. Mein Bruder war 16 und für so etwas gar nicht zu gebrauchen. Und da hat der Vater gesagt: ‚Keine Sorge, ich fahre.‘ Und da habe ich natürlich geheult. Wir sind herumgelaufen, haben Oma, Tante und so weiter Bescheid gesagt. Sie sind alle gekommen. Und da habe ich überlegt und gesagt: ‚Nein, du bleibst zu Hause (…), ich fahre, ich kann das schon (…), ich komme zurecht.‘

Und dann sind wir um 10 Uhr morgens fertig zur Abfahrt auf dem Bahnhof angekommen. Dort stand ein Zug mit einem Viehwaggon dran. Es waren viele junge Menschen da (…). Und natürlich die SS, die alle in den Waggon pferchte. (…) Der Waggon wurde voll gemacht, zugemacht, und dann ist er abgefahren. Und da habe ich gewunken und noch gesehen, wie der Vater da gestanden hat, mit Tränen in den Augen. Das war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen habe.

Drei Wochen lang waren wir mit dem Zug unterwegs. Da ich nirgendwo gewesen war, kannte ich die Städte nicht. (…) man [hat] uns von Polen in ein Sammellager gebracht. Später haben die Männer, wo ich gearbeitet habe, gemeint, das sei Wuppertal (…).

Es war jedenfalls ein großes Lager (…). Es waren viele Menschen dort – furchtbar! -, alle Nationalitäten hörte man sprechen. (…) Aber nicht, daß man uns etwas zu essen gegeben hätte. Die Mädchen haben auf der Wiese Löwenzahn (…) gepflückt. (…) Irgendwann sind zwei Lastwagen gekommen und die SS hat uns gesagt: „Jetzt werdet ihr abgeholt zur Arbeit.“ Und ich habe ganz feste gehofft, daß ich (…) in die Landwirtschaft komme (…). Ein Mann in Zivil kam, und da ich aus der Schule ein paar Brocken Deutsch konnte, bin ich zu dem Mann gegangen und habe gesagt: ‚Wir sind 18 Mädchen aus einem Dorf‘ – drei waren erst 15 und am Weinen -, ‚wir wollen zusammen bleiben.‘ Da hat er gesagt: ‚Gut‘“

Die Mädchen wurden bei der Solinger Firma Pränafa eingesetzt, wo die Arbeitsbedingungen besonders hart waren.


Das Arbeitsamt an der Oststraße 34/36. Quelle: Stadtarchiv Solingen, RS 27925

Für die Zuteilung von Arbeitskräften waren – vereinfacht ausgedrückt – das Arbeitsamt Solingen und das Rüstungskommando in Düsseldorf, eine Dienststelle des Wehrwirtschaftsamtes des Oberkommandos der Wehrmacht, zuständig, das den Bedarf eines Betriebes an Arbeitskräften anerkennen musste. Zudem spielten weitere staatliche Stellen, NS-Organisationen, das Arbeitsamt und die IHK Solingen, die Kreishandwerkerschaft sowie die Stadtverwaltung Solingen bei der Organisation und Verwaltung der Zwangsarbeit eine große Rolle.

Behandelt und bezahlt wurden die Menschen entsprechend der Rassenideologie des Nationalsozialismus. Während Niederländer und Belgier oft wie Deutsche entlohnt wurden und bis 1943 auch die Möglichkeit hatten, ihren Urlaub zu nehmen, wurde Polen ein Teil des Lohnes als „Sozialausgleichsabgabe“ weggesteuert. Auch sie genossen theoretisch Urlaubsanspruch, der ihnen aber in der Praxis verweigert wurde. Auf der untersten Stufe standen die sogenannten „Ostarbeiter“, denen es zu Anfang außerordentlich schlecht erging. Menschenunwürdige Unterbringung, kein Ausgang, geringe Entlohnung und vor allem die völlig unzureichende Ernährung kennzeichneten ihr Schicksal.

Im Oktober 1941 informierte das Wehrkreiskommando VI in Münster über den Einsatz der ersten 25.000 sowjetischen Kriegsgefangenen:

Die sowj. Kr.Gef. treffen meist ausgehungert und unterernährt (…) ein. Ihre Bekleidung ist zerlumpt und abgerissen. Die Disziplin ist schlecht. In diesem Zustand können sie nicht in Arbeit eingesetzt werden. Es ist daher zunächst vorgesehen, sie in den Lagern etwas aufzupäppeln (…). Der ausgehungerte Zustand der sowj. Kr.Gef. bringt eine gewisse Unruhe in die Lager hinein und ist die Ursache zu den bisher vorgekommenen Fluchtfällen (…).


Quelle: Stadtarchiv Solingen, B 1822; zitiert nach Schulte, S.119

Auch viele der sowjetischen Zivilarbeiter, die durch den Aufnäher „Ost“ auf der rechten Brustseite gekennzeichnet waren, standen in den ersten Jahren des sogenannten „Ostarbeitereinsatzes“ tatsächlich kurz vor dem Verhungern. Erst ab 1942 wurden ihre Lebensbedingungen schrittweise verbessert. Die Einsicht hatte sich durchgesetzt, dass hungernde und misshandelte Menschen keine Leistung erbringen konnten. Über die Arbeitszeit der ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen kann keine allgemeingültige Aussage getroffen werden, sie lag täglich zwischen 8 und 12 Stunden an 6 Tagen in der Woche.

Wochenkarte für ausländische Zivilarbeiter, die zum Kauf der angegebenen Lebensmittel berechtigte, Quelle: Stadtarchiv Solingen, Kriegs-Chronik Bd. 151

Was die Arbeitgeber der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen anbelangt, so setzte fast jeder größere Industriebetrieb und eine Vielzahl von Bauern, Händlern sowie zahlreiche Privatpersonen in Solingen Ausländer ein. Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ war ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, in dem die Industrie zwar den zahlenmäßig größten, aber eben nur einen Teil der Zwangsarbeiter beschäftigte. Jeder, der damals in Solingen irgendeine Dienstleistung anbot oder in Anspruch nahm, war Nutznießer dieser erzwungenen Arbeitsleistung. Von den bislang aus den Quellen bekannten 557 Solinger Arbeitgebern waren 227 oder 40% Industriebetriebe.




Als das Stadtarchiv während der Jahre 2000 und 2001 das Thema Zwangsarbeit wissenschaftlich aufarbeitete, meldeten sich auch zahlreiche deutsche Zeitzeugen, die sich an ehemalige Zwangsarbeiter erinnerten. Frau H. schrieb:

Vor meinem Elternhaus stand oft schweigend eine sehr schöne Ostarbeiterin mit milden, sanften Gesichtszügen, meistens mit einem kleinen Kind. Sie bettelte um Lebensmittel. Immer hat meine Mutter ihr etwas gegeben. So wie diese Frau aussah, stellte sich meine Mutter die Muttergottes Maria vor. Die Firma Moll erkundigte sich öfters, wer gebettelt habe, um der Frau Einhalt zu gebieten. Natürlich wurde die Frau nicht verraten.“

Doch es gab auch die andere Seite, die der Denunziationen und der unnachgiebigen Verfolgung durch das Regime. Und je länger der Krieg dauerte, je mehr sich auf der einen Seite die Behandlung der Zwangsarbeiter aufgrund wirtschaftlicher Erfordernisse verbesserte, desto repressiver wurde auf der anderen Seite die Verfolgung durch das Regime. Polen, Russen und Ukrainer galten den Nationalsozialisten als „rassisch minderwertige Menschen“. Sie unterlagen nationalsozialistischem Sonderrecht und wurden streng überwacht und unnachgiebig verfolgt. Verfolgung und Bestrafung oblag der Gestapo, die den Gerichten ab 1942 die Zuständigkeit für Vergehen oder Verbrechen von Zwangsarbeitern endgültig entzog. 1942 schrieb die Gestapo Düsseldorf in ”Merkblatt für die sicherheitspolitische Behandlung der sowjetrussischen Arbeitskräfte aus dem altrussischen Gebiet”:

Bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit und Ungehorsam von Sowjetrussen ist rücksichtslos durchzugreifen und zur Brechung von Widerstand auch von der Waffe schonungslos Gebrauch zu machen. Auf fliehende Russen ist sofort zu schießen mit der festen Absicht, zu treffen. (…)

Die Ausübung des Geschlechtsverkehrs zwischen den Arbeitskräften aus dem altsowjetischen Gebiet und Deutschen ist strengstens verboten. Die russischen Arbeitskräfte sind darüber sofort beim Eintreffen zu belehren. Ihnen ist zu eröffnen, dass männliche Arbeitskräfte (…) bei Zuwiderhandlungen mit dem Tode bestraft und weibliche Arbeitskräfte (…) in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. (…) Gegen Geschlechtsverkehr mit Ausländern nichtgermanischer Abstammung bestehen keine Bedenken, wenn dadurch nicht die Ordnung des Lagers gefährdet wird.“

Quelle: Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, RW 36-10, Bl. 48-51, hier Bl. 49; zitiert nach: Schulte, S.129
Solinger Tageblatt am 15.8.1944 zum Verbot „Ostarbeiter“ und Polen in Gaststätten zu bewirten, Quelle: Stadtarchiv Solingen

Auch wenn sich heute nur noch ein Bruchteil der Verfolgungsschicksale aufklären lässt, so finden sich doch einige von ihnen in den Gerichts- und Prozessakten des Landesarchivs Duisburg widergespiegelt: Vor allem aber sind dort Verfahren gegen deutsche Frauen wegen „verbotenen Umgangs mit französischen Kriegsgefangenen“ überliefert. Die Frauen wurden meist von Nachbarn, gelegentlich auch von Familienangehörigen angezeigt, und zumeist zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt. Daneben haben sich einige wenige Verfahren gegen Niederländer, Belgier und Franzosen wegen widerständigen Verhaltens erhalten.



Das traurigste Kapitel der Zwangsarbeit betrifft die hohe Anzahl der Personen, die aus unterschiedlichen Gründen in Solingen ums Leben kamen. Häufigste Todesursache war der Tod bei Fliegerangriffen. Allein bei den großen Angriffen auf Solingen vom 4./5. November 1944, bei denen weite Teile der Innenstadt zerstört wurden, starben neben 1.500 Deutschen mehr als 150 Zwangsarbeiter. Insgesamt verstarben mindestens 400 Menschen in Solingen. Die Mehrzahl der Toten wurde auf dem Kommunalfriedhof an der Wuppertaler Straße beigesetzt.

Ein Teil der um die 370 Gräber ausländischer Staatsangehöriger auf Solinger Friedhöfen, hier an der Wuppertaler Straße, Quelle: DE ITS 5.3.5 6.71/101105002, Arolsen Archives

Eine unbekannte Anzahl von Menschen wurde zudem in Arbeits- und Konzentrationslagern umgebracht. War man lange noch davon ausgegangen, dass keine Solinger Zwangsarbeiter den Endphasenverbrechen zum Opfer fielen, so erbrachten jüngere Forschungen den Nachweis, dass einige von Ihnen Opfer der Massaker im Arnsberger Wald wurden, die zwischen dem 20. und 23. März 1945 in Warstein, Suttrop und Eversberg verübt wurden.

Nach der amerikanischen Besetzung Solingens am 17. April 1945 kehrten Franzosen, Niederländer und Belgier auf eigene Faust heim. Die Osteuropäer und Italiener wurden an mehreren Stellen in der Stadt gesammelt und von dort aus nach Hause geführt. Für Polen wurden am Mangenberg über 100 Privathäuser für ein Lager requiriert, das „DP Camp Warschau“ oder „Polenlager“, das sich dann bis Mitte 1950 als Durchgangslager hielt.

Juli 1945: Hochzeitsfeier einer Russin und eines Polen (vorne sitzend), die sich als Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof in Merscheid kennengelernt hatten. Unter den Gästen waren auch Deutsche. Quelle: Stadtarchiv Solingen, RS 6428

Mahnmal für die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem städtischen Friedhof in Gräfrath, Foto: Daniela Tobias

Quellen:
– Armin Schulte, „Es war so schwierig, damals zu leben.“ Ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in Solingen 1939-1945, Solingen 2001.
– Armin Schulte, „Man soll mich nur nicht vergessen!“ Stolpersteine in Solingen. Schicksale 1933-1945, hrsg. vom Stadtarchiv Solingen. Solingen 2020, darin Schicksale von Paul Schürmann, S.263f., und Fritz Wege, S.304.
– Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, RW 36-10, Bl. 48-51, hier: Bl. 48 und Bl. 49: „Merkblatt für die sicherheitspolitische Behandlung der sowjetischen Arbeitskräfte aus dem altrussischen Gebiet“; zitiert nach Schulte „Es war so schwierig, damals zu leben.“, S.27 und S.129.
– Landesarchiv Rheinland, Gerichte Rep. 29/127; zitiert nach: Schulte „Es war so schwierig, damals zu leben.“, S. 138.
– Stadtarchiv Solingen, B 1822; zitiert nach Schulte „Es war so schwierig, damals zu leben.“, S.119
– Stadtarchiv Solingen, Fi 22-4769; zitiert nach Schulte „Es war so schwierig, damals zu leben.“, S.25

Die empirische und konzeptionelle Grundlagenarbeit zur Ausstellung durch Dr. Stephan Stracke wurde mit Mitteln der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert.

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