Vor einiger Zeit erreichte uns eine Anfrage zu einer Geschichte, die wie eine Verkettung tragischer Zufälle zu sein schien: War Cyla Wiesenthal, die Ehefrau des späteren „Nazi-Jägers“ Simon Wiesenthal, als Zwangsarbeiterin nach Solingen, in die Geburtsstadt Adolf Eichmanns, verschleppt worden? Und in welcher Firma hatte sie dort gearbeitet?
Das Internet vergisst nichts, ist aber gleichzeitig eine sehr selektive Quelle. So finden sich unter anderem zehn Jahre alte Artikel vom Solinger Tageblatt und Spiegel über Cyla Wiesenthal, die 1944/45 angeblich in einer Solinger Munitionsfabrik Zwangsdienst geleistet haben soll. Auch ein Blick in die digitale Sammlung der Arolsen Archives fördert eine Aussage zutage, die diese Angabe scheinbar bestätigt.
Nach dem Namen Cyla Wiesenthal konnte man freilich im Solinger Stadtarchiv nicht suchen, da sie schon zuvor in Polen unter falschem Namen untergetaucht war, um sich der Verfolgung als Jüdin zu entziehen. Ihr Mann hatte über eine Widerstandsorganisation Papiere unter dem Namen Irena Kowalska für sie besorgt. Damit fand sie zunächst in Warschau in eine Anstellung, wurde aber im September 1944 als Zwangsarbeiterin ins Rheinland verschleppt. Simon Wiesenthal selbst war zuvor bereits nach Auschwitz deportiert worden und hatte den Kontakt zu seiner Frau verloren.
Nach Erscheinen des Artikels im Solinger Tageblatt im Oktober 2010 suchte der Historiker Dr. Horst Sassin daher nach dem von Cyla Wiesenthal verwandten Namen Kowalska. Fündig wurde er jedoch nicht in Solingen, sondern im Stadtarchiv von Heiligenhaus. Die dortige Zwangsarbeiter-Karte Nr. 1828 war auf den Namen Irena Kowalska ausgestellt, einer angeblich 1900 in Lemberg (Lwiw) geborenen Katholikin. Cyla Wiesenthal wurde also als polnische Zivilarbeiterin geführt. Ihr Arbeitgeber war die heute noch existierende Firma Steinbach und Vollmann, die im Zweiten Weltkrieg für die Wehrmacht produzierte. Eine eidesstattliche Erklärung von Cyla Wiesenthal aus dem Jahr 1955, die diese Angaben bestätigte, wurde Horst Sassin während seiner Recherche von der Tochter Paulinka Kreisberg-Wiesenthal aus Israel übermittelt.
Zu den Umständen ihrer Zwangsarbeit in Heiligenhaus schrieb Cyla Wiesenthal von etwa 60 Arbeiterinnen in einer Baracke von 80 Quadratmetern. Das „Ostarbeiter-Gemeinschaftslager“ wurde seinerzeit vom Sozialwerk der Deutschen Arbeitsfront betreut. Die Firma Steinbach und Vollmann, die etwa 50 Zwangsarbeiterinnen beschäftigte, hatte ihre Produktion im Kriegsverlauf von Schlössern und Beschlägen auf typische Kriegsprodukte umgestellt: Gurtzuführungen und Zweibeiner für Maschinengewehre, Schlösser und Beschläge für Wehrmachtsbauten, Baracken und Bunker, Verschlüsse für Luftschutztüren und Reflexvisiere für Nachtjagdflugzeuge.
Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren laut Cyla Wiesenthal hart: der Arbeitstag dauerte zwölf Stunden, für den Sonntag waren Aufräumarbeiten vorgesehen. Wegen fehlender Schutzvorrichtungen an den Maschinen kam es bei der Arbeit häufig zu Unfällen. In der Baracke, einem ehemaligen Stall, gab es weder Licht noch Heizung. Die Frauen schliefen auf Stroh und froren im Winter fürchterlich unter ihren dünnen Decken.
Die Verpflegung bestand aus minderwertigem Kaffee zum Frühstück und einer dünnen Sauerkrautsuppe zum Mittag und zum Abend. Jede Arbeiterin erhielt wöchentlich ein Kilo Brot und 30 Gramm Margarine. Die sanitären Verhältnisse waren „äußerst schlecht“, und eine ärztliche Betreuung gab es nicht.
Sowohl Cyla als auch Simon Wiesenthal überlebten mit Glück die Verfolgung durch das NS-Regime, glaubten aber beide nach der Befreiung nicht, dass sie den anderen lebend wiederfinden würden. Nur durch Zufall trafen sie sich schließlich in einem Flüchtlingslager im österreichischen Linz wieder. Von hier aus begann Simon Wiesenthal seine Lebensaufgabe, die Verantwortlichen für den Holocaust aufzuspüren und vor Gericht zu bringen. Auch Adolf Eichmann, der mit neun Jahren von Solingen in eben jenes Linz gezogen war, gehörte zu den Tätern, die Wiesenthal verfolgte.
Cyla Wiesenthal starb am 10. November 2003 in Wien, ihr Mann Simon zwei Jahre später, am 20. September 2005. Sie waren 67 Jahre verheiratet.
2016 hielt die Enkelin Racheli Kreisberg im Jüdischen Museum Wien für das Wiener Wiesenthal Institut einen Vortrag über ihre Familiengeschichte, in der sie von der Suche nach den 89 ermordeten Angehörigen erzählte, die ihre Großeltern gezählt, aber nie benannt hatten.
Quellen:
– Solinger Tageblatt: „Auf der Spur von Adolf Eichmann“, 6.10.2010
– Spiegel: „Überlebensgroßes Ego“, 6.9.2010
– ITS Digital Archives, Arolsen Archives: CM/1 Formulare und Begleitdokumente des Ehepaars Wiesenthal für Displaced Persons in Österreich, 1949, 1698000/ 80880904 (18 Seiten), Internationaler Sozialdienst
– Horst Sassin: „Wo im Bergischen Land leistete Simon Wiesenthals Ehefrau Zwangsarbeit?“, in: Romerike Berge, Solingen 2011
– Stadtarchiv Solingen, „Ost-Arbeiterinnen“ von Kortenbach & Rauh, RS 15650
– Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)