Verleihung des Agendapreises 2023

Eine Auszeichnung, die uns stolz macht: am 6. Juni wurde dem Verein Max-Leven-Zentrum Solingen e.V. der Agendapreis des Oberbürgermeisters 2023 verliehen. „Für die engagierte Bildungs- und Forschungsarbeit zur Geschichte der Arbeiterbewegung vor und während der NS-Zeit und das Wachhalten der Erinnerung an die Solinger Opfer des Holocaust. Die multiperspektivische Vermittlung von historisch-politischem sowie sozio-kulturellem Wissen befähigt Menschen zu verantwortungsvollem Handeln und fördert den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung”, steht auf der Urkunde. Und wir sind in toller Gesellschaft unter den Preisträgern. Den ersten Preis bekam die Initiative „Open Gyms” von Gökhan Alkan und der Jugendpreis der Wirtschaftsjunioren ging an die Grundschule Westersburg. Für Stimmung sorgten die Trommelgruppe der Grundschule Westersburg, Omar Jatta und DJ Domayng sowie das Tanzstudio Elenita und die All Style Crew.

Besonderer Dank gilt neben Tim Kurzbach für die Auszeichnung Prof. Lutz Becker für seine sehr persönliche Laudatio:

„Meine Grundschuljahre habe ich auf der Malteserstraße fast gegenüber der grauen Wand des alten Bunkers verbracht. Für uns Kinder ein unheimlicher Ort. Wir haben ihn als Kinder genau so wie die alten Kellerruinen unter dem heutigen Sportplatz erkundet und auch erlebt, dass dort, direkt gegenüber meinem Kinderzimmer, eine Weltkriegsbombe gefunden wurde. Die Spuren der „schlechten Zeit“, wie die Alten sagten, waren in der der ganzen Innenstadt präsent und sie sind es teils heute noch.
Ich weiß nicht mehr, wann ich erfahren habe, dass dort die ehemalige Solinger Synagoge in Flammen aufgegangen ist oder was in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 geschah. Es waren vielleicht zufällige Bemerkungen der Erwachsenen oder neugierige kindliche Fragen. Ich habe damals mit spitzen Ohren gelauscht, wenn die Alten über Freunde und Verwandte sprachen, die im Krieg gefallen sind, als „175er“ (so nannte man damals Homosexuelle) ermordet oder ins Moor gebracht wurden. Nachbarn, so hörte ich, wurden von der „Gestapo abgeholt“ und sind nie wiedergekommen. Mein Bild hat sich wohl nur sehr langsam zusammengesetzt.
Mein Großvater wurde, wie ich erst spät erfahren habe, als Gewerkschaftler wegen Hochverrat verurteilt und saß in Hamm im Zuchthaus. Von dort wurde er direkt an die Westfront eingezogen. Er hat als Pazifist in zwei Kriegen kämpfen müssen. Seinen Beruf als Rasiermesserschleifer konnte er danach nicht mehr ausüben. Mein Großvater hat nie ein Wort über diese Zeit verloren, ich bekam das alles nur indirekt mit. Dunkel habe ich noch die postkartengroße Bleistiftzeichnung vor Augen, die meinen Großvater vor Stacheldraht zeigte. Er hat sie irgendwann vernichtet. […]
Niemand wird jemals den Rubicon überschreiten, ohne schon vorher die Rahmenbedingungen geschaffen zu haben. Die Geschichte lehrt uns: Am Ufer des Rubicon sind die Kulissen längst gebaut, wirkmächtige Erzählungen (oft sind es reine Lügen), haben ihre Kraft entfaltet, und dann braucht es nur diesen einen Punkt, der die Dinge ins Wanken bringt. Deshalb ist die entscheidende Lehre aus der Geschichte, genau und frühzeitig hinzuschauen, wo sich die Welle aufbaut:
– Welche Themen werden adressiert?
– Wo verschieben sich Grenzen des Sagens und des Handelns?
– Wer hat welches Interesse und schreibt möglicherweise am Drehbuch?“

Laudatio von Prof. Lutz Becker vom 6.6.2024

Dr. Ilka Werner und Daniela Tobias bedankten sich im Namen des Vorstands:

Liebe Anwesenden, lieber Tim Kurzbach, lieber Lutz Becker,

herzlichen Dank für die Auszeichnung und die Wertschätzung, die dadurch ausgedrückt wird. Als wir vor fünf Jahren, damals noch nicht als Verein, sondern als Arbeitskreis, in der VHS den Runden Tisch einberufen haben mit der Forderung nach einer Bildungs- und Gedenkstätte für Solingen, kamen über 120 Solingerinnen und Solinger aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft und der institutionellen Netzwerke zusammen und machten deutlich, dass der Ort an der Max-Leven-Gasse mit seiner Geschichte der Ort für eine solche Einrichtung ist. Die Stadtsparkasse Solingen nahm den Ball auf und erklärte, dass sie in ihrem Neubau Raum für das Max-Leven-Zentrum zur Verfügung stellen will, wenn die Stadt die Trägerschaft übernehmen wird. Dann ging alles ganz schnell: Vereinsgründung, einstimmiger Beschluss des Stadtrats und im Mai 2020 hätte unsere Ausstellung „… und laut zu sagen: Nein.“ im Zentrum für verfolgte Künste eröffnen sollen. Es kam anders, es kam Corona, und wir mussten erstmal ein Jahr lang digital arbeiten, was auch seine Vorteile hatte, denn wöchentliche Newsletter mit Geschichten aus unserer Ausstellung fanden ein interessiertes Publikum.

Inzwischen steht die Ausstellung seit Mai 2021 im Zentrum für verfolgte Künste, der Verein hat zahlreiche Führungen und Veranstaltungen durchgeführt, zusammen mit dem Stadtarchiv Stadtführungen entwickelt, weitere kleine Ausstellungen im öffentlichen Raum erstellt, ist auf Stadtfesten präsent, versucht zusammen mit dem Stadtarchiv den Kontakt zu Schulen weiter auszubauen, hat in Kooperation mit dem Evangelischen Kirchenkreis das Kinderbuch „Wer rettet Bella?“ veröffentlicht, das seit nunmehr über einem Jahr über das kreiskirchliche Schulreferat nicht nur in Solinger Grundschulen sondern auch an weiterführenden Schulen erfolgreich zum Einsatz kommt. Der Verein hat Kontakt nach Zdolbuniv in der Ukraine, mit dem dortigen Heimatmuseum planen wir eine Ausstellung über Fritz Gräbe, den Solinger Architekten, der in der dortigen Region Juden und Polen vor Massenerschießungen rettete. Wir haben Kontakt nach Alkmaar in den Niederlanden, planen mit der Stichting Tante Truus eine Ausstellung über die Kindertransporte von Truus Weijsmüller-Meijer nach Deutschland zu holen. In dieser Woche hatten wir 28 Nachfahren aus aller Welt zu einer Stolpersteinverlegung zu Gast.

Man könnte denken, wozu braucht es noch ein Zentrum an der Max-Leven-Gasse, es läuft doch schon alles? Ja, es läuft vieles und das ist auch notwendig als eine Art Vorleistung, um überhaupt an Fördergelder zum Aufbau des Zentrums zu kommen. Die rasante Entwicklung des Max-Leven-Zentrums hat in Fachkreisen für Aufsehen gesorgt, das gemeinsame Engagement von Zivilgesellschaft, Stadt und Sparkasse hat beeindruckt. Aber das Ziel ist und bleibt ein dauerhafter und sichtbarer Ort, von dem die zukünftige Bildungsarbeit ausgehen kann. Dazu haben sich 2019 alle bekannt. Und ein solcher Ort ist notwendig, denn zu viele Menschen, insbesondere Lehrerinnen und Lehrer in Solingen, kennen das Max-Leven-Zentrum immer noch nicht, auch, weil sie es nicht verorten können.

Ein räumliches Max-Leven-Zentrum wird es nicht zum Nulltarif geben. Wir haben in NRW die komfortable Situation, dass es mit der Landeszentrale für politische Bildung und der Museumsförderung des LVR verlässliche Partner gibt, die bei der Finanzierung unterstützen, das tun sie jetzt schon. Sie setzen aber auch Eigenanteile der Träger voraus. Mit einem eigenen Ort werden natürlich die laufenden Kosten steigen und eine Ersteinrichtung muss her. Das wird nicht einfach im städtischen Haushalt abzubilden sein, aber wir als Verein vertrauen auf den Beschluss des Stadtrats von 2019 und hoffen, dass Lösungen gefunden werden. Der Verein wird gerne im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützen. Die Trägerschaft und Verantwortung liegen aber bei der Stadt.

Wir haben viel zu gewinnen: Das Max-Leven-Zentrum soll ein neuer Anker in der Innenstadt werden und es passt dort gerade in der heutigen Zeit hin. Es erinnert an die Geschichte der Arbeiterbewegung in Solingen in der Zeit des Nationalsozialismus. In Zeiten sozialer Unsicherheit, in der demokratische Grundwerte in Teilen der Gesellschaft nicht mehr bewusst sind oder in Frage gestellt werden, kann der Blick in die Vergangenheit hilfreich sein: wie war das damals mit der Menschenwürde der Arbeiterinnen und Arbeiter, wie versuchten die Menschen ihre Situation zu verbessern, Rechte zu erkämpfen, welche Utopien gab es? Wie wurde der Begriff der Arbeit von den Nationalsozialisten pervertiert? Welche Allianzen gab es, welche hätte es geben können und woran sind sie gescheitert? Wie verhielt sich die Mehrheitsgesellschaft, was passierte mit denen, die Widerstand leisteten? Wir zählen etwa 750 Todesopfer aus Solingen und in Solingen, darunter eine große Zahl an Zwangsarbeiter:innen, die hier ums Leben kamen. Das Max-Leven-Zentrum wird ein Ort des Gedenkens für alle diese Menschen, für Juden und Jüdinnen, Sinti:zze und Jenische, Widerstandskämpfer:innen, Deserteure, behinderte und kranke Menschen, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“, die gelynchten alliierten Flieger.

Das Max-Leven-Zentrum wird auch ein Ort der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus sein: wie hat sich die Gesellschaft nach 1945 neu organisiert, wie haben sich Gedenken und Erinnern entwickelt und wie blicken wir heute auf all das zurück und was ist unser Auftrag hier und jetzt? Die Fragen sind virulent und brauchen einen sichtbaren Ort mit offenen Türen in der Mitte unserer Stadt.

Und ein drittes: Das Max-Leven-Zentrum wird dauerhaft ein wichtiger Teil im Netzwerk der Erinnerungskultur und des Engagements für Vielfalt und Demokratie in Solingen sein: In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für verfolgte Künste, dem Bündnis für Toleranz und Zivilcourage, Dem Bündnis Solingen ist Bunt statt Braun und vielen anderen Vereinen, Religionsgemeinschaften und Organisationen setzt sich das Zentrum inhaltlich und öffentlich für ein breites Engagement für Menschenwürde und ein respektvolles Zusammenleben aller Solinger:innen ein.

Bitte halten Sie Ihre Unterstützung aufrecht! Dann sehen wir uns hoffentlich im Juni 2025 zur Eröffnung des Max-Leven-Zentrums an der Max-Leven-Gasse wieder. Vielen Dank!

Tim Kurzbach, Ilka Werner, Daniela Tobias, Ariane Bischoff und Lutz Becker (v.l.), Foto: Kati Budniok/Stadt Solingen
Tim Kurzbach, Ilka Werner, Daniela Tobias, Ariane Bischoff und Lutz Becker (v.l.), Foto: Kati Budniok/Stadt Solingen

Herzlichen Dank auch an das Team von Ariane Bischoff und Franka Bindernagel für die gute, engagierte Organisation der Veranstaltung.

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