„Meine Großmutter hat immer gesagt, sag niemals, dass du Jude bist“, erzählte Leonid Goldberg beim diesjährigen Gedenken an die Novemberpogrome von 1938. Die Lehre, die seine Großmutter aus der Erfahrung des Holocaust zog, will der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal so nicht hinnehmen. Es sei nicht tragbar, dass im Jahr 2022 bereits mehr als 1.500 antisemitische Straftaten registriert wurden. Menschen jüdischen Glaubens müssten sich in der Öffentlichkeit ohne Angst vor Pöbeleien und körperlichen Angriffen zu ihrer Identität bekennen können. Auch die ständigen verbalen Tabubrüche aus der bürgerlichen Mitte, die Judenhass normalisieren, dürften nicht weiter unwidersprochen bleiben.
Oberbürgermeister Tim Kurzbach nahm die gesamte Gesellschaft in die Verantwortung. Sein Appell richtete sich auch an die ältere Generation einzuschreiten, wenn im Verwandtenkreis, bei der Arbeit oder im Verein antisemitische Reden geschwungen würden, aber auch aktiv die Begegnung zu suchen, in die Bergische Synagoge nach Wuppertal zu fahren, um jüdisches Leben kennenzulernen und Vorurteile abzubauen.
Bei der anschließenden Veranstaltung des Jugendstadtrats in der Stadtkirche am Frohnhof wies Tim Kurzbach die Jugendlichen noch einmal darauf hin, dass es beim Gedenken nicht nur um die Vergangenheit gehe, sondern auch ganz konkret um unser heutiges Miteinander. Antisemitismus sei kein historisches Phänomen: wer heute mit einer Kippa auf die Straße gehe, müsse mit Angriffen rechnen. Hier sei Haltung und Zivilcourage erforderlich, um Jüdinnen und Juden zu schützen.
Sinja Waldmann vom Jugendstadtrat zitierte in ihrer Rede die jüdische Lyrikerin Rose Ausländer „Vergesst nicht, Freunde, wir reisen gemeinsam!“ und forderte, der Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Jakob Höroldt, ebenfalls Mitglied des Jugendstadtrats, fand es wichtig sich gegenseitig Hoffnung zu machen, dass der Einsatz gegen Hass und Gewalt wichtig und richtig ist und nicht hinter den eigenen Sorgen verschwinden darf.
Pfarrerin Friederike Höroldt, die die erkrankte Superintendentin Ilka Werner vertrat, sah die Kirche als einen passenden Ort des Gedenkens an: „Gotteshäuser sollen Orte der Geschichten sein, auch um denen eine Stimme zu geben, die nicht für sich selber sprechen können.“
Ein praktisches Beispiel von vermutlich unbedachtem Antisemitismus bot sich bei der abendlichen Familien-Stadtführung zur Geschichte von Bella Tabak. Am Entenpfuhl bemerkte ein Passant, dass er die Schilderung von Bellas Erlebnissen in der Pogromnacht sehr eindrücklich fand. Er selber, Jahrgang 1936, könne sich noch gut an die Plakate mit den Juden-Karikaturen erinnern, die er als Kind gesehen habe. Daraufhin erklärte er, dass er sich nicht schuldig fühle und nicht einsehe, warum man heute immer noch versuche, den Deutschen Schuld einzureden. Dass es diesen Schuldvorwurf gar nicht gibt und es stattdessen um die Frage der Verantwortung hier und heute gehe, zum Beispiel wenn Juden mit Kippa angefeindet werden, kommentierte er mit „Naja, die müssen ja auch nicht extra provozieren. Dann sollen sie halt nach Israel ziehen.“
Zu denken geben sollte einem allerdings, dass die nationalsozialistische Presse am Tag nach den Pogromen in Solingen ebenfalls eine Täter-Opfer-Umkehr mit der angeblichen Provokation durch die Juden begründete und jede Verantwortung von sich wies:
In all den Jahren nach der Machtübernahme hatte es immer wieder die deutschen Volksgenossen herausgefordert, daß von dem hohen Dach dieses jüdischen Gebetshauses provozierend der Davidstern, das Symbol des jüdischen Volkes, über Solingen hinwegstarrte. Die Synagoge wurde im Laufe der Nacht von der Volksmenge gestürmt. Die Inneneinrichtung wurde dabei vollkommen zerstört, und später geriet sie in Brand. Das Feuer griff sehr schnell auf de ganzen Bau über. Der Bau brannte vollständig aus. Da die Grundmauern stehengeblieben waren, wurde am gestrigen Tage aus sicherheitspolizeilichen Gründen mit ihrem Abbruch begonnen. Der Davidstern leuchtet nicht mehr über Solingen.
Rheinische Landeszeitung, 11.11.1938, Quelle: Stadtarchiv Solingen
Leider war eine weitere Verständigung mit dem Herrn nicht möglich, und so bleibt neben dem klaren Widerspruch, den er durch die erwachsenen Teilnehmer*innen des Rundgangs erfahren hat, die Hoffnung, dass auch die jüngere Generation, die der Geschichte von Bella aufmerksam folgte, die Sache mit dem „nie wieder“ besser verstanden hat. Jüdisches Leben in Deutschland muss eine Selbstverständlichkeit sein und darf nicht in Zweifel gezogen werden.
Besonders gefreut haben wir uns auch, dass Hartmut Mosebach an dem Rundgang teilgenommen hat. Der 1930 geborene Solinger lebte in direkter Nachbarschaft zu dem Möbelgeschäft der Familie Tabak am Ufergarten und konnte sich gut daran erinnern, wie er als Kind mit Bella im Hinterhof gespielt hat. In der Pogromnacht stand er mit seinen Geschwistern am Fenster und beobachtete voller Schreck, wie der Nazi-Mob nebenan die wertvollen Möbel auf die Straße warf und zerstörte. „Erklärt hat uns das niemand von den Erwachsenen.“